* 1 *
Die Bootsbauerin Jannit Maarten war auf dem Weg in den Palast. Jannit, eine große hagere Frau mit ausgreifenden Schritten und dem Pferdeschwanz eines Seemanns, hätte sich in ihren kühnsten Träumen nicht vorgestellt, dass sie eines Tages ihr Ruderboot an der Schlangenhelling festmachen und zum Palasttor marschieren würde. Doch an diesem kühlen, grauen Frühlingstag tat sie genau dies, und ihr war mehr als nur ein bisschen mulmig zumute.
Ein paar Minuten später schaute Unterzauberin Hildegard, die heute im Palast den Türdienst versah, von ihrem Aufsatz zu dem Thema »Grundlagen, Praxis und Möglichkeiten der Transformation« auf, den sie für die Abendschule schreiben musste. Sie sah Jannit zögernd über die breite Bohlenbrücke kommen, die sich über den Zierwassergraben spannte und zum Palasttor führte. Froh über die Unterbrechung sprang Hildegard auf und grüßte lächelnd: »Guten Morgen, Miss Maarten. Kann ich Ihnen behilflich sein?«
»Sie wissen, wie ich heiße?«, fragte Jannit erstaunt.
Hildegard sagte Jannit nicht, dass sie sich vorgenommen hatte, alle Leute mit Namen zu kennen. Stattdessen antwortete sie: »Aber natürlich, Miss Maarten. Meine Schwester hat letztes Jahr auf Ihrer Werft ihr Boot reparieren lassen. Sie war mit der Arbeit sehr zufrieden.«
Jannit hatte keine Ahnung, wer die Schwester dieser Unterzauberin war, aber sie fragte sich unwillkürlich, um welches Boot es sich wohl handeln mochte. Für Boote hatte sie nämlich ein gutes Gedächtnis. Sie lächelte verlegen und nahm ihren zerbeulten Strohhut ab, den sie eigens für den Besuch im Palast aufgesetzt hatte. Der Strohhut war für Jannit, was für andere ein Ballkleid oder ein Diadem war.
»Damen dürfen ihre Hüte gern aufbehalten«, sagte Hildegard.
»Ach?«, erwiderte Jannit und fragte sich, was das mit ihr zu tun hatte. Sie hielt sich nicht für eine Dame.
»Wünschen Sie jemanden zu sprechen?«, fragte Hildegard, die Besucher gewohnt war, die keinen Ton herausbrachten.
Jannit drehte den Strohhut in den Händen. »Sarah Heap«, antwortete sie. »Wenn es recht ist.«
»Ich schicke einen Boten. Dürfte ich den Grund Ihres Besuchs erfahren?«
Nach einer langen Pause antwortete Jannit: »Nicko Heap.« Und starrte auf ihren Hut.
»Oh. Wenn Sie bitte einen Augenblick Platz nehmen würden, Miss Maarten. Ich hole jemanden, der Sie gleich zu ihr bringt.«
Zehn Minuten später saß Sarah Heap, die dünner als früher war, aber noch im Vollbesitz ihrer strohblonden Locken, an dem kleinen Tisch in ihrem Salon und sah mit ihren grünen Augen sorgenvoll Jannit Maarten an.
Jannit saß ihr gegenüber auf einem großen Sofa. Sie fühlte sich unbehaglich, aber das war nicht der Grund, warum sie nur auf der Sofakante saß. Sie saß deshalb auf der Kante, weil auf dem Sofa nicht mehr Platz war – der Rest war von dem Plunder belegt, der Sarah Heap überallhin zu verfolgen schien. Ein paar Topfpflanzen pikten sie in den Rücken, und ein schwankender Stapel Handtücher hatte sich gemütlich an sie gelehnt, und so saß sie stocksteif da und wäre fast vom Sofa gefallen, als plötzlich hinter einem Wäscheberg neben dem Kamin ein leises Schnattern hervortönte und eine rosahäutige, stoppelige Ente erschien, die ein buntes Jäckchen trug. Die Ente kam zu ihr herübergewatschelt und hockte sich vor ihre Füße.
Sarah schnippte mit den Fingern. »Komm her, Ethel.« Sofort stand die Ente wieder auf und wackelte hinüber zu Sarah, die sie hochhob und auf den Schoß nahm. »Einer von Jennas kleinen Lieblingen«, erklärte Sarah mit einem Lächeln. »Früher hat sie sich nie etwas aus Haustieren gemacht, und plötzlich hat sie zwei. Merkwürdig. Ich weiß nicht, wo sie die herhat.«
Jannit lächelte höflich, noch unschlüssig, wie sie mit dem, was sie zu sagen hatte, beginnen sollte. Verlegenes Schweigen trat ein, und nach einer Weile sagte sie: »Äh ... eine große Wohnung haben Sie.«
»Oh ja, sehr groß«, erwiderte Sarah.
»Wunderbar für eine große Familie«, fügte Jannit hinzu und bereute es schon im nächsten Augenblick.
»Ja, wenn die Kinder bei einem wohnen wollen«, erwiderte Sarah bitter. »Aber nicht, wenn vier von ihnen lieber im Wald bei einem Hexenzirkel leben und nicht einmal auf einen Besuch nach Hause kommen. Gar nicht zu reden von Simon. Ich weiß, dass er etwas Unrechtes getan hat, aber er ist immer noch mein erstes Baby. Er fehlt mir sehr. Ich hätte ihn gerne hier bei mir. Es wird Zeit, dass er sich häuslich niederlässt. Er hätte es viel schlimmer treffen können als mit Lucy Gringe, ganz gleich, was sein Vater sagt. Hier wäre genug Platz für alle, auch für Kinder. Und was meinen kleinen Septimus angeht... Wir waren so viele Jahre getrennt, und jetzt steckt er die ganze Zeit oben im Zaubererturm bei dieser pingeligen Marcia Overstrand, die mich jedes Mal, wenn wir uns begegnen, fragt, ob ich nicht froh sei, Septimus so oft zu sehen. Eine Unverschämtheit! Sie hält das wohl für einen Scherz, denn in letzter Zeit sehe ich ihn kaum noch. Genau genommen seit Nicko ...«
»Ach ja«, fiel ihr Jannit, die Gelegenheit nutzend, ins Wort. »Nicko. Seinetwegen ... nun ja, Sie können sich wahrscheinlich denken, warum ich hier bin.«
»Nein«, erwiderte Sarah, die es sich sehr wohl denken konnte, aber nicht wollte.
»Ach.« Jannit blickte verlegen auf ihren Hut und legte ihn dann kurzerhand auf einen Haufen hinter ihr. Sarahs Mut sank. Sie ahnte, was jetzt kommen würde.
Jannit räusperte sich und begann: »Wie Sie wissen, ist Nicko nun schon seit sechs Monaten fort, und wie man hört, weiß niemand, wo er ist und wann er zurückkommt und ob er überhaupt jemals zurückkommen wird. Tatsächlich, und es tut mir sehr leid, das zu sagen, habe ich gehört, dass er niemals wiederkommen wird.«
Sarah stockte der Atem. Bislang hatte niemand gewagt, ihr das so offen ins Gesicht zu sagen.
»Es tut mir sehr leid, dass ich Sie so überfalle, Madam Heap, aber ...«
»Oh, ich heiße Sarah. Bitte nennen Sie mich einfach nur Sarah.«
»Sarah. Es tut mir leid, Sarah, aber ohne Nicko bewältigen wir die Arbeit nicht mehr. Die Sommersaison steht vor der Tür, und dann wollen noch mehr übermütige Dummköpfe aufs Meer hinausfahren und auf Heringsfang gehen. Die wollen alle, dass ihre Boote bis dahin flottgemacht sind. Außerdem ist die Porter Fähre nach den monatelangen Unwettern schon wieder reparaturbedürftig – kurz und gut, auf uns kommt jede Menge Arbeit zu. Verzeihen Sie, aber solange Nicko noch bei mir Lehrling ist, kann ich nach der Ausbildungsordnung der Bootsbauergilde – an die ich mich halten muss, obwohl sie voller Tücken steckt – niemand anders einstellen. Ich brauche aber dringend einen neuen Lehrling, zumal Rupert Gringes Lehrzeit bald zu Ende geht.«
Sarah Heap hatte fest die Hände gefaltet, und Jannit bemerkte, dass ihre Fingernägel bis aufs Fleisch abgenagt waren. Sarah zitterte und schwieg eine Weile. Dann, gerade als Jannit dachte, sie müsste das Schweigen brechen, sagte sie: »Er wird zurückkommen. Ich glaube nicht, dass sie in der Zeit zurückgereist sind – niemand vermag das. Jenna und Septimus haben sich alles nur eingebildet. Es war irgendein böser, böser Zauber. Wie oft habe ich Marcia gebeten, der Sache auf den Grund zu gehen. Sie könnte Nicko finden, das weiß ich genau, aber sie unternimmt nichts. Rein gar nichts. Das alles ist ein furchtbarer Albtraum!« Sarah hatte verzweifelt die Stimme gehoben.
»Das tut mir leid«, murmelte Jannit, »aufrichtig leid.«
Sarah holte tief Luft und versuchte, sich zu beruhigen. »Sie können ja nichts dafür, Jannit. Sie waren immer gut zu Nicko. Er hat sehr gerne bei Ihnen gearbeitet. Natürlich müssen Sie sich einen anderen Lehrling suchen. Nur hätte ich eine Bitte an Sie.«
»Aber gewiss«, erwiderte Jannit.
»Wenn Nicko zurückkommt, kann er dann die Lehre bei Ihnen fortsetzen?«
»Es wäre mir eine Freude.« Jannit lächelte, erleichtert, dass Sarah um einen Gefallen bat, den sie erfüllen konnte. »Und sollte ich bis dahin einen neuen Lehrling haben, kann Nicko in Ruperts Fußstapfen treten und mein neuer Geselle werden.«
Sarah lächelte wehmütig. »Das wäre wunderbar«, sagte sie.
»Und jetzt ...«, nun kam der Teil, vor dem Jannit graute, »... muss ich Sie leider bitten, die Kündigung zu unterschreiben.« Sie stand auf, um eine Pergamentrolle aus ihrer Jackentasche zu ziehen, und der Stapel Handtücher, plötzlich seiner Stütze beraubt, fiel um und nahm ihren Platz in Beschlag.
Jannit räumte auf dem Tisch eine Ecke frei und entrollte das lange Stück Pergament, das Nickos Lehrvertrag war. Sie beschwerte es oben und unten mit Gewichten, die gerade zur Hand waren – einem zerfledderten Roman mit dem Titel Liebe auf hoher See und einer großen Tüte Kekse.
»Oh.« Sarah stockte der Atem, als sie unten auf dem Pergament Nickos krakelige Unterschrift sah – neben der von Jannit und ihrer eigenen.
Hastig legte Jannit die Kündigung, einen kleinen Pergamentstreifen, auf die Unterschriften und sagte: »Sarah, ich muss Sie als eine der Parteien, die den Vertrag unterzeichnet haben, bitten, die Kündigung zu unterschreiben. Ich hätte eine Feder, falls Sie ... falls Sie keine finden.«
Sarah konnte keine finden, und so nahm sie die Feder und das Tintenfass, die Jannit aus der anderen Tasche ihrer Jacke gezogen hatte, tauchte die Feder in die Tinte und setzte ihren Namenszug auf das Pergament. Ihr war, als ziehe sie damit einen Schlussstrich unter Nickos Leben.
Eine Träne tropfte auf die Tinte und verschmierte sie. Beide Frauen taten so, als hätten sie es nicht bemerkt.
Jannit unterzeichnete daneben. Dann zog sie aus ihrer unerschöpflichen Jackentasche eine Nadel, in die ein dickes Segelgarn eingefädelt war, und nähte die Kündigung auf die alten Unterschriften.
Nicko Heap war jetzt nicht mehr Jannet Maartens Lehrling.
Jannit ergriff den Hut, der hinter ihr auf einem Haufen schwebte, und eilte davon. Erst als sie an ihrem Boot anlangte, bemerkte sie, dass sie versehentlich Sarahs Gärtnerhut erwischt hatte. Sie stülpte ihn sich trotzdem auf den Kopf und ruderte gemächlich zu ihrer Werft zurück.
Silas Heap und Maxie, der Wolfshund, fanden Sarah im Kräutergarten. Aus irgendeinem Grund, den Silas nicht verstand, trug Sarah einen Matrosenstrohhut. Außerdem hatte sie Jennas Ente bei sich. Silas war von der Ente nicht eben begeistert – beim Anblick der Federstoppeln bekam er immer Gänsehaut, und das gehäkelte Jäckchen nahm er als Zeichen dafür, dass Sarah allmählich den Verstand verlor.
»Ah, da bist du ja«, rief er und eilte den gepflegten Grasweg entlang zu dem Minzebeet, in dem Sarah traumverloren herumstocherte. »Ich habe dich überall gesucht.«
Sarah antwortete mit einem matten Lächeln, und als Silas und Maxie durch die wehrlose Minze trampelten, erhob sie nicht den leisesten Protest. Silas sah sorgenbeladen aus wie Sarah. Seine strohblonden Locken hatten in letzter Zeit einen Grauton angenommen, sein blauer Mantel eines Gewöhnlichen Zauberers schlackerte ihm um den Leib, und sein Zauberergürtel war ein oder zwei Löcher enger geschnallt als gewöhnlich. Umhüllt vom frischen Duft der zertrampelten Minze, trat er auf Sarah zu und setzte sogleich zu der Rede an, die er sich zurechtgelegt hatte.
»Es wird dir nicht gefallen«, sagte er, »aber ich habe einen Entschluss gefasst. Maxie und ich werden in den Wald gehen, und wir werden nicht wiederkommen, ehe wir ihn gefunden haben.«
Sarah nahm die Ente auf den Arm und drückte sie so fest an sich, dass der Vogel ein ersticktes Quak von sich gab. »Du bist stur wie ein Esel«, schimpfte sie. »Wie oft habe ich dir gesagt, dass du Marcia nur dazu überreden musst, etwas gegen diesen schrecklichen schwarzen Zauber zu unternehmen, der Nicko irgendwo festhält. Nicko wäre im Handumdrehen wieder da. Aber du willst ja nicht. Immerzu redest du von diesem blöden Wald ...«
Silas seufzte. »Marcia glaubt nicht, dass schwarze Magie dahintersteckt. Das habe ich dir doch gesagt. Es hat doch keinen Sinn, sie immer wieder darum zu bitten.« Sarah blickte ihn so finster an, dass er es anders versuchte. »Hör doch, Sarah, ich muss etwas tun, sonst werde ich noch verrückt. Sechs Monate ist es jetzt her, dass Jenna und Septimus ohne Nicko zurückgekommen sind. Ich kann nicht länger warten. Du hattest denselben Traum wie ich. Du weißt, dass er etwas zu bedeuten hat.«
Sarah erinnerte sich genau an den Traum, den sie ein paar Monate nach Nickos Verschwinden gehabt hatte. In diesem Traum ging Nicko durch einen tief verschneiten Wald. Es dämmerte, und vor ihm schien ein gelbes Licht durch die Bäume. Bei ihm war ein Mädchen, etwas größer und älter als er, wie es schien. Sie hatte langes, weißblondes Haar und war in einen Wolfspelz gehüllt. Sie deutete auf das Licht vor ihnen. Nicko nahm sie bei der Hand, und zusammen liefen sie dem Licht entgegen. In diesem Augenblick hatte Silas zu schnarchen begonnen, und Sarah war aufgewacht. Am nächsten Morgen hatte ihr Silas aufgeregt erzählt, dass er von Nicko geträumt habe. Er erzählte ihr den Traum, und mit Erstaunen stellte sie fest, dass er dasselbe geträumt hatte wie sie.
Seit jenem Tag war Silas davon überzeugt, dass Nicko im Wald war, und wollte sich auf die Suche nach ihm begeben. Doch Sarah war dagegen. Der Wald in ihrem Traum, so sagte sie immer wieder zu Silas, sei nicht der Burgwald gewesen. Er habe anders ausgesehen, dessen sei sie sich sicher. Doch Silas widersprach. Er kenne den Wald genau und sei davon überzeugt, dass es der Burgwald gewesen sei.
Sarah und Silas waren beileibe nicht immer einer Meinung, seit sie zusammen lebten, doch meist begruben sie ihre Meinungsverschiedenheiten schon nach kurzer Zeit, spätestens dann, wenn Silas ein paar Wildblumen oder Kräuter für Sarah als Versöhnungsgeschenk mit nach Hause brachte. Diesmal freilich brachte er kein Versöhnungsgeschenk. Ihr Streit über das Thema Wald wurde immer erbitterter, und bald hatten sie beinahe den eigentlichen Grund für ihre Traurigkeit, nämlich Nickos Verschwinden, aus den Augen verloren.
Doch nun war Silas zufällig Jannit Maarten begegnet, als sie mit Nickos ehemaligem Lehrvertrag aus dem Palast kam. Und da hatte er einen Entschluss gefasst. Er wollte in den Wald gehen, um Nicko zu suchen, und niemand konnte ihn davon abhalten, am wenigsten Sarah.